Fallstricke für Erwachte

Für diejenigen, die meinen, die Entwicklung wäre mit dem Erwachen schon zu Ende. Hier geht es auch um nach dem Erwachen häufig auftretenden Stolz bzw. spirituellen Stolz.

Spiritueller Stolz. Ich bin nicht nur eine nette Person, sondern auch noch erleuchtet.

Glauben, nach dem Erwachen gäbe es keine persönliche Entwicklung mehr.
Antwort: Die Entwicklung geht weiter bis zum Lebensende, z.B. durch immer feinere Umwandlung von Störgefühlen, z.B. Anhaftung (Frage: “Worauf kann ich nicht verzichten?”), und immer feinere innere und äussere Wahrnehmung.

Es gibt kein Ego / keine Person mehr.
Antwort 1: Achte auf die konkrete Erfahrung. Es mag Momente der Ruhe geben, wo der Sinn für das Selbst nahezu verschwindet. Ganz verschwindet er aber nie, besonders beim Planen und Handeln nicht. Diese Sicht ist ein unerreichbarer Grenzfall und damit ein Konzept, d.h. Verstand.

Es gibt kein Ego / keine Person mehr.
Antwort 2: Diese Sicht ist hilfreich, um Menschen unmissverständlich klar zu machen, dass es in dieser Situation nichts für den Verstand, die Person oder das Ego gibt. Man muss aber, um sprachlicher Verwirrung vorzubeugen, dazusagen, dass dies Rhetorik ist, um Menschen zum Erwachen zu bringen.

Vor dem Erwachen ist nach dem Erwachen. Alles ist OK. Die Welt ist “in Ordnung”. Man braucht nichts zu tun. Handlungsbedarf bei Umweltzerstörung, Krieg, Not, etc. wird ignoriert.
Antwort: Siehe vorige Antwort. Diese vollständig nonduale Sicht ist ein Grenzfall (d.h. ein Konzept), der möglicherweise individuell nie ganz erfahrbar ist.

Ich bin erleuchtet und daher auf allen Gebieten kompetent. Ich erkenne nicht, dass ich in bestimmten Situationen und Gebieten nicht genug weiß.

Ich bin erleuchtet und daher ist meine bisherige Ausrichtung im Leben oder meine von mir angewandte Heilmethode das einzig Wahre.

Unproduktives Herumsitzen.
Antwort: Erleuchtung ist kein Egotrip, sondern stets zum Besten aller.

Aus subjektivem Erleben auf objektive Tatsachen schliessen.
Ich bin so geflashed von meiner Erwachenserfahrung, dass ich alles, was ich durch Introspektion erfahren habe, für objektive Realität halte.

Die eigenen Quirks und die eigene Unwissenheit nicht wahrnehmen bzw. wahrhaben wollen.

Wahlloses Übernehmen beliebiger esoterischer und metaphysischer Konzepte.

Mangelnde Fähigkeit sich in die Perspektive anderer hineinzuversetzen.
Ich sehe die Welt jetzt so anders, da kann ich mir nicht mehr vorstellen, was in anderen Menschen vorgeht.

Ständig im Erwachenserlebnis baden und davon erzählen.

Bliss und andere intensive Erlebnisse bzw. Gefühle für Erleuchtung halten, obwohl sie doch transient sind.

Jetzt wo ich erwacht bin, muss ich spiritueller Lehrer werden.
Antwort: Die Entscheidung wird nicht ordentlich hinterfragt. Warum sich nicht für weltliche Dinge engagieren?

“Nachteile” des erwachten Bewusstseinszustand nicht wahrhaben wollen, z.B. geringere Zielgerichtetheit, geringere Motivation für langfristige Planung/Handlung.

Sich für unfehlbar halten.

Glauben, jetzt wo ich erwacht bin, bin ich Supermann bzw. habe übernatürliche Fähigkeiten oder anderweitig anderen etwas “voraus”.

Verwechslung von Gewahrsein mit trainierter Wahrnehmung.
Antwort: Das was wir wirklich sind, bewirkt noch nicht feine Wahrnehmung im Innen und Aussen. Dies müssen wir, z.B. durch Meditation, trainieren, wie wir auch den Körper trainieren müssen, wenn wir körperliche Leistungen vollbringen möchten.

Gewahrsein als Konzept, statt als Erfahrung.
Antwort: Hier findet folgende Verwechslung statt: Wir befinden uns eigentlich gar nicht im Hier und Jetzt und nicht in der Stille, sondern im Verstand und in der Person, die ein Konzept vom Gewahrsein bzw. der Stille hat. Erfahrenes Gewahrsein ist mit Entspannung und Hingabe und der direkten sinnlichen Erfahrung des Hier und Jetzt verbunden. Es gibt eher Loslassen als Festhalten. Es gibt Beobachtung ohne Wertung.

Unangemessen mit Menschen umgehen, weil man voraussetzt, dass sie erwacht sind bzw. nicht erwacht sind.

Unangemessener Gebrauch der Sprache, z.B. durch Verwendung unklarer Begriffe, durch starres Voraussetzen einer metaphysischen Welt oder durch Unklarheit, ob der Satz sich auf die Zeit vor, während oder nach dem Erwachen bezieht. Sprachlich so tun, als gäbe es keine persönlichen Regungen bzw. kein Ego mehr.

Keine langfristige Perspektive im Handeln.

Glauben, man hätte durch das Erwachen eine brauchbare Erkenntnistheorie.

Glauben, der Umgang mit anderen Menschen wäre perfekt. “Ich bin ja so liebevoll!”

So tun, als gäbe es einen “Weg” zum Erwachen.
Antwort: Dies unterstellt anderen, dass sie noch nicht “angekommen” sind.

Nicht beachten, dass Worte für das, was wir wirklich sind, nur Hinweise sein können.

Die meisten dieser Fallstricke treffen auf Erwachte wie nicht Erwachte gleichermassen zu. Komisch nicht? 🙂

Sprituelle Lehrer, wenn sie sich nicht um ihre persönliche Weiterentwicklung kümmern und eigene Fehler nicht wahrnehmen, sind eher kühl und unpersönlich, statt warmherzig und liebevoll.

Manik Reuters